Ausgrenzung ist der Brennstoff für Radikalisierung

Europa gilt als sozial ausgeglichenster Teil der Welt – zumindest nimmt es sich selbst so wahr. Dennoch: Das Versprechen eines sozialen Sicherheitsnetzes und gleichwertiger gesellschaftlicher Teilhabe, das die EU sich auf die Fahnen schreibt, ist für viele hier lebende Menschen nicht einlösbar. Rassismus und despektierliches Verhalten gegenüber Minderheiten und sozio-ökonomisch benachteiligten Gruppen sind treibende Kräfte von Radikalisierung. Steigender wirtschaftlicher Druck – auch durch die Folgen der Pandemie – erzeugt zusätzlich Spannungen in der Gesellschaft.

Studienergebnisse beweisen: Besonders Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen sind empfänglich für die Rekrutierungsversuche radikaler Gruppierungen. Isolierung, Perspektivenlosigkeit und das Gefühl, dass Europas Werte und Versprechen nicht für den „kleinen Mann“ oder die „kleine Frau“ gelten, spielen bei Islamisten, Verschwörungstheoretikern und im rechtsradikalen Milieu eine große Rolle.

Immer wieder verüben Personen, die in Europa geboren und aufgewachsen sind und sich auch hier radikalisiert haben, Terroranschläge. Die Motivforschung bei Personen, die terroristischen Organisationen angehör(t)en, beweist, dass nicht der Migrationshintergrund oder sonstige „Andersartigkeit“ selbst zur Radikalisierung führt, sondern dass es die Erfahrungen sind, die ein Leben als Angehöriger einer Minderheit oder einer sogenannten sozial schwachen Schicht mit sich bringt.

Statt Rassismus und Ausgrenzung als Brennstoff für Radikalisierung zu erkennen, reagieren die meisten Staaten genau falsch mit Maßnahmen, die sich etwa gegen Muslime generell richten oder mit mehr Polizei und Strafverschärfungen. Doch junge Menschen, die sich von der Gesellschaft abgelehnt fühlen, geraten leichter in die Nähe radikaler Gruppen. Identitätskonflikte und Zukunftsängste tragen dazu bei. Radikale Führungspersönlichkeiten agieren oft wie Sozialarbeiter. Sie sind mit den Lebenswelten Jugendlicher vertraut, sie bieten ihnen Antworten auf deren Fragen und einen geschützten Ort, an dem es egal ist, woher man kommt oder was man hat.

Europäische Staaten verfügen über die Fähigkeiten und die finanziellen Mittel, genau diese Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Jugend- und Gemeinschaftszentren tun das bereits nach Kräften, allerdings mit viel zu wenig Ressourcen. Jugendsozialarbeiter werden schlecht bezahlt und erhalten wenig Anerkennung. Noch nie war in Europa die erste Maßnahme am Tag nach einem Terroranschlag, das Budget für Streetworker zu erhöhen oder VertreterInnen der Jugendsozialarbeitseinrichtungen bei der Gestaltung von sicherheitspolitischen Maßnahmen, die die Jugend betreffen, auf Augenhöhe einzubinden. Genau das verlangt jedoch die aktuelle Situation.

Für die Terrorismusbekämpfung der Zukunft brauchen wir nicht nur einen gut finanzierten Sicherheitsapparat mit entsprechenden Kompetenzen, der strenger parlamentarischer Kontrolle und den Regeln der Verhältnismäßigkeit unterliegt. Wir müssen auch eine Gesellschaft sein, die unermüdlich daran arbeitet, niemanden zurückzulassen. Beides sind unverzichtbare sicherheitspolitische Ansätze für eine möglichst friedliche und gewaltfreie Zukunft Europas.

Eine Langfassung dieses Textes finden Sie in der „Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2021“ des Bundesministeriums für Landesverteidigung.