Am liebsten hab ich gehabt, wenn er sich versungen hat

Ein viel zu langer Text über meinen Lieblingsphilosophen Willi Resetarits und die Grundsätze des Willi-ismus, die es nun – mehr denn je – gelassen, aber sorgfältig anzuwenden gilt.

Das erste Mal, als ich den Willi gesehen hab, war ich noch ein Kind. Es war das Abschlussfest der Dreharbeiten zum Film „Blutrausch“ 1996 oder 97, auf das mich meine Mama mitgenommen hat. Ich sah ihn, weil ich noch nicht so groß war, von schräg rechts unten, das weiß ich noch genau. Alle haben ihn sehr herzlich begrüßt und ich erinnere mich, gedacht zu haben: Das muss ein sehr netter Typ sein, wenn den alle so gerne haben. 

Erst viele Jahre später, als schon Erwachsene, entdeckte ich dann seine Musik für mich und noch mehr, seine Bedeutung für die unteren Gesellschaftsschichten. Wer aus einfachen Verhältnissen stammt, kennt bestimmt die Vielzahl an verzwickten Situationen, in denen man sich wiederfinden kann, wenn man nicht mit Geld aufgewachsen ist, sogar wenn einem der „soziale Aufstieg“, gelingt. Man kennt die Vokabel nicht, mit denen andere um sich werfen, man war im Urlaub nie weiter weg als Rimini. Man rennt sein ganzes Leben lang vor der Armut davon und vor allem was dazu gehört: vor Sorgen und Krankheit, Herablassung anderer Menschen und dem Gefühl, dass man nie auch nur den kleinsten Fehler machen darf und doppelt so viel leisten muss, weil man immer strenger beurteilt wird. Das ist wahnsinnig anstrengend. 

Zum 100. Geburtstag von H.C. Artmann im Oprheum

„I hob wos vergessn, i waß nur ned wos“

Deshalb hab ich immer am liebsten gehabt, wenn Willi Resetarits sich auf der Bühne versungen hat und wie fröhlich er damit umging. Es war ihm nicht peinlich, er versuchte nicht, über Fehler hinwegzustäuschen und wenn doch, dann so übermütig schalkhaft, dass der Fehler zum eigentlich Kunstwerk im Lied wurde. 

Bei einem Konzert mit Ernst Molden in der Sargfabrik 2021 treibt er diese Praxis auf die Spitze. Er findet nicht ins Lied hinein. Als Molden ihn fragend anschaut, sagt der Willi: „I hob wos vergessn, i waß nur ned wos!“ Das Publikum lacht. Die nächsten fünf Minuten passiert es ihm immer wieder. Mitten im Lied kommt ihm der Text abhanden, beim nächsten Lied ist sein Instrument falsch gestimmt und er kämpft ein bisschen damit, bis Molden anbietet, es für ihn zu stimmen. „Wos fia a Tonoart mochma?“, fragt er und ordnet Molden an „des no amoi urndlich“ zu singen. „Dua des festschraum do und daunn no amoi“ oder so sagt er. Molden gehorcht, obwohl er meint, keiner hätte das gemerkt. „I brauchat wen, der ma imma sogt, wos i mochn soi“, sagt Willi schließlich, während er noch mit dem Instrument kämpft und erzählt von einem Schild, das er zu Hause hat, auf dem steht: „Erst die Hose, dann die Schuhe.“ Mit jedem Lacher liebt ihn das Publikum mehr und ich kann mir keine schönere Version des Liedes mehr vorstellen, als jene dreimal verkehrte, die ich damals von den beiden in der Sargfabrik gehört habe. 

Molden und Resetarits und die technischen Gebrechen

Bei einem anderen Gig im Konzertsaal musste er zwischendurch aufs Klo und moderierte das charmantest an. Keinem war irgendwas peinlich, alle warteten gerne auf ihn. Manchmal muss man halt aufs Klo, wenns grad unpraktisch ist. Aber was will man denn dann Anderes machen, als einfach zu gehen? Beim Abend zum 100. Geburtstag von H.C. Artmann hatte er seine Brille vergessen und las deshalb „schlecht“, wie er sagte und baute die Brillenlosigkeit in seine Darbietung ein. Zu seinem 70er trat er zwei Tage lang mit allen Bands, mit denen er je gespielt hatte, in der Stadthalle auf, obwohl er schwer verkühlt war. Man hatte ihm deshalb eine Art Schnupfenbar gebaut. Auf einem Stehtischerl standen Hustensaft, Nasenspray, Taschentücher und ein Spritzer. Dort pausierte er zwischendurch, sprühte sich frontal vor dem Publikum plaudernd den Spray in die Nase und erzählte von seinem Schnupfen. 

Selbstoptimierung und inszenierte Plastikleben, blinder Ehrgeiz und Konkurrenzkampf hat viele von uns zu Hochstaplern gemacht, die ständig fürchten, demaskiert zu werden. Oft begegnet mir jemand im Berufsleben, der Angst hat, sich zu blamieren oder dass irgendetwas in einem Meeting peinlich ist. Viele fürchten, unprofessionell zu wirken, wenn sie einfach normal mit den Menschen reden. Sie versuchen, ihr Unwissen und ihre Fehler zu vertuschen. Weil wir halt nicht alle so gescheit sind wie der Willi. Man darf sich trauen, echt zu sein. Von ihm habe ich gelernt, dass man – auch vermeintlich höher gestellten Leuten – am besten mit offenem Herzen, Humor und Aufrichtigkeit gegenübertritt. Was soll einem denn passieren? Mehr, als zu versuchen, möglichst angenehme Zeitgenossen für einander zu sein, können wir alle nicht tun. Das ist für mich die erste Regel des Willi-ismus (das ist was anderes als Kurtologie). In seinen Worten: „Du kannst mit deinem Unbewussten – des vü waß – ned wirklich Zwiesprache halten. Aber du kannst Sochn passiern lossn. Oder wie der Ostbahn Kurtl gsogt hot: Du kannst der Stimme deines Herzens folgen. Daunn passiern scho die gscheitn Sochn.“ 

Sagen, was gesagt gehört

Wie mit nur wenig anderen fühlte ich mich auch dadurch mit ihm verbunden, dass er stets anzusprechen wusste, was mir selbst gerade Sorgen machte. Dazu gehören seine Bemühungen im Rahmen des Projekts Integrationshaus, sein ungebrochener Antifaschismus, den es immer noch braucht, wie der rechtsradikale Angriff auf das Ute Bock Haus ausgerechnet am Tag seines Todes beweist.

Er war sich nie zu gut, vor den Gefahren von Fremdenhass und Krieg zu warnen und tat das immer in einem Tonfall des Mitgefühls und der Liebe für die Welt. Bei einem wundervollen Konzert in der Müllverbrennungsanlage Spittelau vor einigen Jahren, als die schwarz-blaue Regierung noch an der Macht war und Strache gerade wieder irgendeinen Unfrieden stiftete, sprach er den Jugoslawienkrieg an. Das sei „no goa ned so laung hea“ und man dürfe nicht vergessen, wie leicht der Frieden einem verlorengehen kann. Jedes Mal wieder war ich dankbar und beeindruckt davon, wie er das machte. Andere wären vielleicht davor zurückgeschreckt, um nicht „die Stimmung zu ruinieren“. 

Ernst Molden stellte Willi Resetarits auf der Bühne stets als „Österreichs einzigen echten Superstar“ vor und das war auch angemessen. Ich merke es daran, dass mir kein anderer Österreicher einfällt, von dem ich so ein Fangirl bin. Als ich einmal auf den Stufen des Hintereingangs zum Konzerthaus saß und auf den Beginn der Musik wartete, querte der Superstar die Straße und kam auf uns zu. Durch den Beruf meiner Mutter war ich an (in Österreich) berühmte Menschen gewöhnt und hatte gelernt, sie zu behandeln wie alle anderen und ihnen nicht am Orsch zu gehen. Das war der einzige Moment in meinem Leben, in dem ich aufsprang und rief „Guten Tag, Herr Resetarits. Dürfte ich ein Foto mit Ihnen machen?“

Andere träumen von neuen Autos, großer Karriere, Reichtum. Meine großen Träume sahen anders aus: Ich werd einfach so lang auf seinen Konzerten herumschleichen und zeichnen, bis irgendwer mich fragt, ob ich das nächste Album-Cover designen will. Dann – so hatte ich vor – würde ich mit einer übertriebenen Geste auf mich selbst zeigen und gespielt bescheiden sagen: „Wer, iiiiiich?“, als hätte ich das nicht schon die ganze Zeit geplant gehabt. 

Österreichs einzig echter Superstar

Ich wählte auch gut aus, mit wem ich den Willi teilte. Ganz selten spielte ich einem Mann, einem Gspusi etwas von ihm vor und wenn der nicht sofort verstanden hat, welch monumentale Werke er da hörte, wusste ich sofort: Den heirate ich nicht!

Einmal schenkte ich einem mir sehr wichtigen Menschen eine Karte für ein Molden Resetarits Soyka Wirth Konzert im Konzerthaus. Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, wir würden für immer zumindest irgendwas für einander sein. Tatsächlich tat sich der erste Riss in unserer Beziehung noch knapp vor dem Konzert auf. Ich hätte nicht so blöd sein sollen, ihn mitzunehmen. Wenn er dann auch noch etwas nicht ausreichend Begeistertes gesagt hätte nach dem Konzert … Doch er lauschte ehrfürchtig und sagte am Ende: „Danke, dass du mich mitgenommen hast.“ Und ich glaube, er hat das sogar ehrlich gemeint. Man merke, wie sehr der Molden und der Resetarits einander lieben, sagte er. 

Diese große Freundschaft zwischen den Menschen, die meine Lieblingsmusik machen, ist die zweite wichtige Grundlage des Willi-ismus. Bei jedem Konzert dachte ich: Die würden wahrscheinlich genauso da sitzen und miteinander spielen, wenn wir alle nicht da wären.

Beim Konzert in der Stadthalle saß ich so günstig, dass ich sehen konnte, wie Ernst Molden sich einen Sessel in den Seiteneingang der Bühne gestellt hatte und sein Idol beobachtend seinen eigenen großen Fanmoment hatte. Wenn Molden von Willi Resetarits spricht und seiner Fähigkeit, selbst im relativ hohen Alter noch neue Instrumente zu lernen, leuchten seine Augen. Er nennt ihn den „George Benson der Wiener Ukulelenlandschaft“ und den „Jaco Pastorius der Ukulelenbasslandschaft“. Auf so einem Konzert war man niemals einsam, niemals traurig und nichts tat einem mehr weh. Rundherum saßen ausschließlich Leute, die dem Aussehen nach gute Freunde meiner Eltern sein konnten. Mit 300 Leuten, die nicht fremd sind, aber deren Namen man nicht kennt, in der Sargfabrik im Finstern sitzend „Awarakadawara“ zu singen ist ziemlich super. Dann sagt Ernst Molden: „Öha, do woggelt a Scheinweafa“ und Resetarits antwortet: „Der wü amoi a Stroboskop wern, owa er übt no.“

Ich bin wahnsinnig zufrieden, möchte aber nichts als selbstverständlich oder wie man sagt „for granted“ nehmen. Des derf ma nie aus die Augn verliern. Deswegn wiederhol ich sehr oft, dass i a Glück hob. Weil das is ja ned selbstverständlich. Und so lebt sa si super. Ma hot so vü Grund ,sie zu gfreien und wenn ma den Dreh heraußen hot, dass ma die Dankboarkeit einebringt, lebt sa sie no vü leiwander.“

Willi Resetarits in „Vom ewechn Lem“ (2020)

Im Film „Vom ewechn Lem“ sitzt er bei dieser tiefgründigen Lebensweisheit mit Spritzerglas im Grünen. Dann sagt er: „Können wir bitte einen Zwischenschnitt auf das Huhn machen“ und die Kamera richtet sich auf einige gackernde Hühner ein paar Meter entfernt. 

Am Sonntag den 24. April 2022 halte ich am Sofa ein Mittagsschlaferl und wache von lautem Donnern überm Dampfschiffhaufen in Floridsdorf auf. „Die Engerln tan Kegel schiabn“, hätte die Oma gesagt. 57 Engeln haben jetzt frei. Für mehr als sieben Jahrzehnte haben sie auf einen der größten – Musiker – aber vor allem Menschen aufgepasst. Dann waren sie alle am Flüchtlingsball und sind danach nur kurz, aber leider alle gleichzeitig eingeschlafen. Und so ist es passiert, dass der Willi jetzt mit ihnen kegelt und wir hier unten mit einer großen Aufgabe überbleiben: Wir müssen ihn nach Kräften und so würdig wie möglich vertreten. Vertreten und nicht ersetzen wohlgemerkt. „Man soll ruhig merken, dass er fehlt“, hat er selbst bei seinem 70er über Günter Brödl gesagt, der damals nicht mehr mitspielen konnte.

Man soll auch merken, dass Willi Resetarits uns fehlt. 

Seiner Biografie „Ich lebe gerne, sonst wäre ich tot“ stellt er einen Auszug aus Jura Soyfers „Sturmzeit“ voran, der hier am Ende stehen soll:

Der Weg ist weit und fern die Rast,
und Müdigkeit hat dich erfasst.
Du willst die Augen schliessen.
Und dennoch, schliess die Augen nicht,
dem Sturme blick ins Angesicht,
denn du sollst alles wissen.

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