Einfache Sprache ist nicht einfach

Im Winter bin ich einer Expertin für barrierefreie Kommunikation begegnet. Gut, dass es so etwas gibt, hatte ich bis dahin gedacht. Aber eigentlich wusste ich nicht, was das bedeutet. Barrierefreie Kommunikation ist die ultimative Empathie-Übung. Ich habe eine Fortbildung in diesem Feld gemacht und viel mehr gelernt, als mich einfacher auszudrücken.

Seit Jahren beschäftige ich mich mit komplizierten Themen. Ich denke über Zellbiologie nach, schreibe über Sicherheitspolitik und EU-Erweiterungspolitik und habe an parteipolitischen Programmen, Broschüren und sonstigen Informationen mitgearbeitet. Texte „für alle“ sollten das sein. Aber, und es wird Ihnen bei Ihrem Lieblingsthema auch oft so gehen: Oft versteht kaum jemand, wovon ich rede.

SIE können auch nicht immer gut lesen!

JedeR zweite erwachsene Mensch in Österreich hat Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Manche sehen schlecht, haben eine geistige Beeinträchtigung oder schlechte Deutschkenntnisse. Andere haben wenig Zeit, stehen im Stau oder unter Stress oder Angst, sind unkonzentriert, leicht abzulenken, lesen Nachrichten nach 10 Stunden Arbeit in der U-Bahn auf dem Handy. Eltern lesen Informationen von Behörden, während daneben ihre Kinder FIFA über Zimmerlautstärke spielen.

In solchen Situationen verstehen Sie schnell nur noch die Sprachstufen A2 bis B1, auch wenn Deutsch Ihre Muttersprache ist. Wer noch nie einen Brief von der Versicherung bekommen hat, den er nicht verstand, werfe den ersten Stein.

[An dieser Stelle hören Sie das Geräusch von ungeworfenen Steinen]

Bei Zuwiderhandeln wird Ihr Fahrzeug kostenpflichtig entfernt!

Wichtige Texte zu Steuern, Gesundheit, Sicherheit, Arbeitsrecht, Versicherungen, Sparkonten etc. sind aber auf dem Niveau C1. Das ist ein Problem, weil es viele Menschen von Information ausschließt, die für ihr Leben sehr wichtig sind. Argumentiert man so, erscheint sofort eine Germanistin (ich bin auch eine) und sagt: „Man kann doch nicht das Niveau an die Schwächsten anpassen. Wenn man die Leute nicht fordert, verstehen sie bald noch weniger.“ Ich finde, das ist ein schlechtes Argument. Sprache ist dazu da, Dinge verständlich zu machen. Kann sie das nicht leisten, ist sie nicht überlegen, sondern nutzlos.

Außerdem sollen wesentliche Angebote des gesellschaftlichen Lebens natürlich so ausgerichtet sein, dass sie möglichst für niemanden außer Reichweite sind. Sie regen sich ja auch auf, wenn Sie irgendetwas nicht kriegen, was Sie dringend brauchen. Für wen halten wir uns überhaupt, dass wir Sätze wie „Bei Zuwiderhandeln wird Ihr Fahrzeug kostenpflichtig entfernt“ auf Schilder schreiben? Wann haben Sie das letzte Mal jemanden das Wort „Zuwiderhandeln“ verwenden gehört? Eben.


Wir haben keine Ahnung davon, wie die Menschen um uns herum die Welt sehen. Sehen Sie Farben so wie ich? Kommen Sie an die oberen Küchenkastln ohne Leiter heran? Verstehen Sie Deutsch? Auch wenn jemand im Dialekt spricht? Sind Sie gesund oder krank? Haben Sie gut geschlafen? Können Sie schnell reagieren, wenn plötzlich ein Auto kommt oder muss ich mir Sorgen um Sie machen? Was haben Sie in Ihrem Leben bisher gemacht? Was haben Sie gelernt? Können Sie Ziffern besser lesen als Worte? Wie groß muss die Schrift für Sie sein? Helfen Ihnen Bilder? Oder verwirren die Sie oft? Spreche ich zu schnell? Oder zu langsam? Zu laut? Oder zu leise? Interessiert Sie mein Thema überhaupt?